Kathrin Tölle, Katalogtext "Welten-Naht"

„Ich weiß nicht wer du sein wirst, wenn du zurückkehrst - werden wir uns noch erkennen nach all der Zeit“

Diese zwei Zeilen eines Gedichtes können vielleicht als eine Art Leitbild der gezeigten Arbeiten Carolin Weises verstanden werden. Kurz vor Beginn der Ausstellung fertigte die Künstlerin eine dreiteilige Collage mit diesen beiden Sätzen an. Das Auge sucht nach Wiedererkennbarem auf den Blättern und findet Kontinente, japanische Schriftzeichen, Zahlen und Linien, vielleicht Routen und Reisewege? Unwillkürlich fragt man sich: Was passiert mit mir auf Reisen? Wie habe ich mich verändert, wenn ich zurückkehre?  

Schaut man genau hin, bemerkt man, dass es sich nicht um normale Weltkarten handelt: nein, es sind Bordwetterkarten, wie unten rechts die halb verdeckten Buchstaben belegen. Diese Entdeckung eröffnet neue Assoziationswelten und lässt an Seefahrer denken, die monatelang unterwegs sind. So sind auch diese beiden Sätze von jemandem geschrieben, der daheimgeblieben ist und die Rückkehr eines Reisenden erwartet. Die Buchstaben stammen aus einem japanischen Schulatlas und den Hintergrund bilden Bordkarten eines Frachtschiffes. Die Künstlerin selbst verbringt regelmäßig Zeit in Japan. So verwebt sie auf vielschichtige Weise ihre persönlichen Erlebnisse, Erinnerungen und Erfahrungen und ermöglicht es uns, gleichzeitig unsere eigenen Assoziationen zu erschließen.

Das Unterwegssein findet sich in unterschiedlichster Weise in der Ausstellung wieder. Uns begegnen in Collagen verarbeitete Landkarten und Stadtpläne, aber auch feingliedrige Zeichnungen und großformatige Malereien. Gemeinsam haben viele Werke Linien und Strukturen, welche an Straßennetze, Wege und auch den menschlichen Blutkreislauf erinnern. Auf faszinierende Weise verbinden sich in vielen der ausgestellten Arbeiten menschliche Figuren und Landkarten zu symbiotischen Wesen. Zu diesem Gedanken passt auch das Gedicht „Spaziergang“ von Klaus Merz,welches ebenfalls in einer Collage auftaucht:

„Tag für Tag - gerate ich tiefer - in die Landschaft hinein - die mich durchquert“

Nicht nur der Mensch durchdringt die Landschaft, auch die Welt durchdringt uns und hinterlässt Spuren, wenn wir reisen. Diese Spuren lassen sich in den Werken der Künstlerin direkt finden. Es gibt feine Zeichnungen, die den menschlichen Körper mit Kontinenten und Ländern überziehen; Organe werden zu Seen und Grünflächen, zu Autobahnnetzen und Hochplateaus.

Die Arbeit „HerzEssen“ nimmt die Parallele zwischen Straßennetz und den Blutbahnen auf und zeigt uns eine menschliche Figur ohne Außenbegrenzungen. Nur das eigentlich verborgene Aderngeflecht, gezeichnet in feinen Bleistiftlinien, bildet die menschliche Figur. Das Herz aber ist farbig dargestellt und verändert sich bei genauer Betrachtung zu einem Teil eines Stadtplanes von Essen. Begleitet wird die Figur von eigenartigen farbigen Strukturen, die an ein Autobahnnetz erinnern und es lässt an ein interessant geschneidertes Kleid für eine papierne Kleiderpuppe denken, welches man ausschneiden und mit Papierlaschen befestigt. Es könnte ein Sinnbild dafür sein, dass wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse mit uns tragen, vielleicht wie unsere Kleidung, die wir aber auch ablegen und ändern können.

Die großformatige Malerei mit dem Titel „Surface“ entstand schon einige Zeit vor den gerade beschriebenen Werken. Trotzdem erinnert die, in mehreren Malschichten angelegte, Form auf weißem Grund im Kontext der anderen Werke an eine Insel oder einen Kontinent. Die Künstlerin trug immer wieder neue Farbschichten auf, ließ diese trocknen und schliff sie wieder ab und es entstand ein heterogene Oberfläche, die auch an ein Stoffmuster erinnert. Carolin Weise denkt an einen Kimono, der wieder die Bezüge zu Japan aufgreift. „Surface“ bezieht sich dabei auf die interessante Oberfläche, aber auch auf die Unmöglichkeit in den Gesichtern der Japaner eine Emotion zu deuten. Es kommt zu einem Wechselspiel von Innen und Außen, Binnenflächen und äußeren Umrahmungen. Hier zeigt sich besonders eindrücklich die Verbindung zu den Holzarbeiten von Vitor Ramos. Auch bei seinen ausgestellten Arbeiten bestimmt ein Wechselspiel von Innen und Außen die Arbeiten. Auch wenn beide Künstler mit ganz unterschiedlichen Techniken arbeiten, in der Ausstellung „Welten-Naht“ lassen sich viele Bezüge finden…….

 

“Man muss immer einen Anfang haben.” – Carolin Weises Malerei zwischen Kalkül und Zufall

Ein Text von Sabine Schlenker

In Carolin Weises Atelier stehen die Bilder, an denen sie arbeitet, nicht auf Staffeleien oder an der Wand, sie liegen flach auf dem Boden. Dicht an dicht sind die großformatigen Leinwände ausgebreitet und zeigen sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung. Manche sind erst im Anfang, andere bereits weit fortgeschritten. Allen gemein ist, dass die Künstlerin stets von oben darauf blickend an ihnen arbeitet und diesen Blickwinkel bewusst dazu nutzt, perspektivisch "falsche" Bilder zu realisieren. Zu sehen sind dabei körperhafte Formen, Gegenstände wie Stühle oder Hocker sowie verschlungene Gebilde, die in verschiedenen Kombinationen aufeinandertreffen.

Seitdem Carolin Weise beschlossen hat, neue Wege zu gehen, entstehen ihre Werke nun in einem spannenden Prozess, der mit Kalkül und Zufall zugleich spielt. Die Abkehr von der Malerei mit Pinsel und einem zuvor erdachten Bildaufbau hin zum freien Experimentieren mit Farben, Formen und Flächen entwickelte sich über einen längeren Zeitraum hinweg. War für Carolin Weise bislang das Malen der Weg zum Ziel, ist es nun das Malen selbst, das sie in ihrem Schaffen vorrangig interessiert. Dabei geht es der Künstlerin um nicht weniger, als sich mit dem Wesen der Malerei und ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen und immer wieder neue Formen und Kombinationen auszuprobieren. Verbunden mit dem konkreten Wunsch, von den bekannten Geschichten und Vor-Bildern wegzukommen, stellt sich Carolin Weise in ihrer veränderten Arbeitsweise die zentrale Frage, was durch die gestischen Striche und durch das Auskippen der Farben auf die Fläche passiert und welche Assoziationen dadurch entstehen.

Wenn Carolin Weise mit dem Bemalen einer Leinwand beginnt, hat sie kein fertiges Bild im Kopf. Allein den Anfang müsse sie haben, alles andere entstehe dann im weiteren Prozess. Oft sind es zunächst die mit dem Pinsel aufgetragenen wolkenartigen Gebilde, die sie auf den zumeist unbehandelten Bildträger bringt, aber auch die aus einem Becher ausgegossenen Farbflächen können als erstes auf die Leinwand gebracht werden. Wo welche Flächen dabei platziert werden, ist für Carolin Weise ein langwieriger Weg. Mit größter Konzentration und nicht selten über mehrere Stunden hinweg überlegt die Künstlerin, wohin sie die Farbe gießen kann. Die Stelle müsse richtig gewählt sein, sonst sei das Bild, wie sie selbst sagt, "verdorben". Dieser kontrollierte Schritt des Ausgießens verbindet sich dabei unmittelbar mit dem sich willkürlichen Ausbreiten der Farbe, die innerhalb einer vorgegebenen Umrandung aus etwas festerer Farbe auf die Fläche fließt und sich wie ein See auf der liegenden Leinwand ausbreitet. Das Vermischen der Farben kann Carolin Weise somit nur bedingt steuern. Im Gegenteil arbeitet sie mit dem zufälligen Ineinanderfließen der unterschiedlichen Farben, die sich zu neuen Farbkombinationen verbinden oder sich an anderen Stellen abgrenzen.

Dass Unvorhergesehenes während ihrer Arbeit passiert, dass Sachen entstehen, die sie nicht planen kann, macht für Carolin Weise den Reiz dieser Malweise aus. Damit steht sie in einer Tradition von Künstlern, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der rein figürlichen Malerei zu einer informellen Kunst übergingen, in welcher der Prozess des Malens, das Gestische im Mittelpunkt ihres Schaffens stand. Der physische Akt, das Erleben des Malens selbst sowie das Experimentieren mit Farben und Formen war in dieser Kunstströmung der 1950er und frühen 1960er Jahre der zentrale Bestandteil der Arbeit und er ist es heute in ähnlicher Weise auch für Carolin Weise.

Im Laufe des Trocknungsprozesses der Farben, die auf die Leinwand ausgegossen wurden, entstehen höchst interessante Muster und Marmorierungen, die den Flächen einen eigenwilligen Charakter geben und immer einzigartig sind. Die zumeist unbehandelte Leinwand bildet den bewusst zurückgenommenen Hintergrund der Formen, die auf manchen Bildern Körperteilen gleichen, die als amorphe Fragmente an menschliche Figuren oder Gliederpuppen erinnern. Verstärkt wird das hier durch die reduzierte Farbwahl, die aus Braun-, Rosa- und Beigetönen besteht.

Auf anderen Bildern wiederum sind Stühle oder Hocker zu entdecken, die aufgrund der aus der Vogelperspektive ausgeführten Malweise in ihrer Form verzerrt wirken. Es ist, als würden die Stuhlbeine auf den Bildflächen sich biegen, ja geradezu tanzen. Beim Betrachten entsteht der Eindruck, als würde der Blick von oben auf ein Interieur gelenkt, in dem das Mobiliar auf Wolkenteppichen schwebt und jeden Augenblick seine Position verändern könnte. In diesen, aber auch in allen anderen Bildern ist zu erkennen, dass Carolin Weise sich von Alltagsgegenständen inspirieren lässt und scheinbar unbedeutende Dinge, denen kaum Beachtung geschenkt wird, in ihre Malerei mit aufnimmt. Es sind nicht nur Stühle und Hocker, die gut erkennbar zu Protagonisten in ihren Bildern werden. Auch die verschlungenen Flächen, die immer wieder in ihren Arbeiten auftauchen, sind dem Alltäglichen entsprungen. So veranlasste die Künstlerin ein zusammengeknüllter Kleiderhaufen auf einem Hocker dazu, die daraus entstandenen Gebilde und Strukturen der ineinander verschlungenen Kleidungsstücke mit gestischen Bewegungen in ihrer Malerei umzusetzen. Verbunden mit den gegossenen Formen ergeben die Motive eine faszinierende Bildwelt, in der dem Wunsch Carolin Weises entsprechend vielfältige Assoziationen freigesetzt werden. Weit entfernt von der klassischen Landschaftsmalerei entstehen auch hier Räume und Szenerien, in der die Figuren unter einem dunklen Himmel erscheinen oder Stühle zu Eintänzern werden.

Manche Farbflächen erinnern in ihrer Struktur auch an Edelsteine oder an ausgegossenes Make Up, vielleicht auch an Schokolade oder Seetang. Die unterschiedlichsten Bilder treten beim Betrachten der Arbeiten zutage und vermischen sich mit eigenen und bereits bekannten Bildern zu individuellen Geschichten. Was bewirken scheinbar tanzende Stühle? Welche Ideen verbindet man mit den drei langhaarigen Figuren unter einem in dunklen Blau- und Grautönen gemalten Schlingengebilde? Dass bei dem letztgenannten Bild zum Beispiel Edgar Degas‘ sich kämmende Frauen im Boudoir der Auslöser waren, darf an dieser Stelle verraten werden. So geht es Carolin Weise keineswegs darum, sich gänzlich von Vorbildern lösen zu wollen. Vielmehr besteht ihr Interesse darin, dass in ihren Arbeiten bei näherem Hinschauen auch die unterschiedlichsten Vor-Bilder aus der Kunst entdeckt werden können. Mit ihrer zwischen Kontrolle und Zufall pendelnden Arbeitsweise ist es der Künstlerin möglich, stets neue, unvorhergesehene Bildkompositionen zu schaffen. Neue Gegenstände und weitere Vor-Bilder werden zukünftig mit einfließen und sie zu noch unbekannten Formulierungen inspirieren. Dabei ist ihr wichtig, den Pinselstrich weiter zu reduzieren und das Gestische verstärkt in den Vordergrund zu rücken. Die Möglichkeiten der Malerei sind vielfältig und Carolin Weise hat sich auf den Weg gemacht, diese Möglichkeiten weiter auszuloten und in ihren Arbeiten sichtbar werden zu lassen.